Annie Ernaux – Nobelpreis für Literatur 2022

Annie Ernaux – Nobelpreis für Literatur 2022

2 Bücher von Annie Ernaux – Der Platz und Eine Frau

In Frankreich galt die Schriftstellerin schon lange Zeit als Ausnahme unter den zeitgenössischen Kulturschaffenden, nun hat sie durch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur eine entsprechende Aufwertung bekommen. Ihr Schreiben hat eine starke autobiografische, analytische Komponente. Ihre eigene Lebensgeschichte bildet den Hintergrund für ihre Literatur. Aufgewachsen im ländlichen Raum hat sich Ernaux von der ländlichen Existenz ihrer Herkunft weg entwickelt und ist schließlich Lehrerin geworden. Gleichzeitig geht es in ihren Büchern auch um die Entwicklung der französischen Nachkriegsgesellschaft. Sie sagt über sich, dass sie „das Mädchen rekonstruiert, das sie selber gewesen ist.“ Dafür hat sie allerdings eine erstaunliche Textstilistik entwickelt, die ihresgleichen sucht.

Der Platz (1983, dt. Neuübersetzung 2019)

ist die Geschichte ihres Vaters, zu dem Annie Ernaux zu Lebenszeiten ein distanziertes, fernes Verhältnis hatte. Zunächst hatte sie sich an einem Roman über ihn versucht, fand diesen Schreibansatz aber zu aufgesetzt, denn emotional und dramatisch über ihn zu schreiben passte im Grunde nicht zu seiner Wesensart, fand sie. Statt dessen entstand ‚Der Platz‘, der eine Art literarischer Essay mit erzählerischen Zügen ist.

Ernaux ist auf einem Dorf aufgewachsen, in einer Welt, in der die Menschen über Generationen in vorbestimmten Leben stecken. Ich Vater wurde mit 12 Jahren Stallknecht, genau wie bereits sein Vater, auf dem gleichen Hof. Allein der erste Weltkrieg bedeutete eine Unterbrechung dieses vorbestimmten Lebens. Schließlich schaffte er es, in den zwanziger Jahren durch Fleiß und Sparsamkeit einen Kramladen mit Schankwirtschaft anzumieten, und so die Welt der schweren körperlichen Arbeit hinter sich zu lassen. Seine persönliche Entwicklung hinkte dieser gesellschaftlichen Veränderung hinterher: er schämte sich in Gesellschaft anderer Menschen seiner einfachen Sprache, und seines wenig beflissenem Benehmens.

Zwar ist der Vater die zentrale Figur in diesem Buch, doch geschildert durch die Augen der Tochter. Karg und dicht sind die Sätze häufig, als wolle sie der Erinnerung an den Menschen, mit dem zusammen sie aufwuchs, nichts hinzu fügen, nichts hinzu dichten. Und findet so eben einen Klang für die Welt des ländlichen Frankreichs, das von ehernen Beziehungen und Abhängigkeiten geprägt ist, dem man sich unterwirft, und zu unterwerfen hat. Annie Ernaux schildert allerdings, wie sie selber den Sprung aus diesem Leben heraus findet und ein Studium absolviert. 2 Monate nach ihrer Abschlussprüfung stirbt ihr Vater, so unspektakulär, wie er gelebt hat. Und es ist genau dieses unspektakuläre, was selten in der Literatur geschildert und nur selten literarisch betrachtet wird. Es scheint ein unerwähnenswertes Leben zu sein, doch gelingt es Ernaux, dem Leser Einblicke zu ermöglichen, Erfahrungswelten zu teilen und Entwicklungen zu schildern, die nur selten Eingang in die kulturelle Befindlichkeit per se findet. 1983 erhielt Annie Ernaux für dieses Werk den ‚Prix Renaudot’

Eine Frau (1988, dt. Neuübersetzung 2019)

5 Jahre nach dem Buch über ihren Vater erschien ein Buch über ihre Mutter. Unweigerlich ist ihre Lebensgeschichte mit der ihres Mannes verbunden, doch gelingt der Autorin ein distanzierter, fasettenreicher Text, der vor allem die Eigenartigkeiten ihrer Mutter in den Mittelpunkt stellt. Und gerade deshalb ist dieses Buch ganz anders in Form und Wirkung. Wo ‚Der Platz‘ noch eine Geschichte, einen Zusammenhang nacherzählt und literarisch ausgestaltet, ist ‚Eine Frau‘ eher eine Kette von Beschreibungen und Selbstreflektionen. Sie ist ihrer Mutter merklich näher als ihrem Vater. Die Nähe zischen Mutter und Tochter beschreibt sie sehr eindringlich, und auch, wie sich beider Beziehung auseinander entwickelt und Mutter und Tochter schließlich nichts mehr gemein haben. Aus der ursprünglichen Nähe entstehen immer mehr Konflikte, die zu einer Trennung führen. Diese wird immer eine Lücke im Leben der Autorin sein. Annäherungen sind immer wieder möglich, doch etwas Gemeinschaftliches bleibt verloren. Bruchstückhaft bleibt diese Geschichte, ihre sozialen Vorgänge, ihre emotionale Balance. Wo ihr Vater mehr ein distanzierter Herrscher ist, erlebt sie ihre Mutter mehr als Scharnier im vielschichtigen menschlichen Geflecht, das die dörfliche Kleinstadt bedeutet, in der die Familie Ernaux beheimatet ist. Vom Text her ganz anders gebaut ist dieses Buch stärker von Selbstanalyse geprägt. Und dadurch eine gute Fortführung zum Buch über den Vater.

Ein Text von M. Freerix

vonpaula

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