Reisen aus politischen Gründen
12. Emma Goldman 1869 – 1940
Emma Goldman wird als jüdisches Kind in die brutale Welt des zaristischen Russlands geboren. Die Leibeigenschaft ist gerade mal abgeschafft, ihre Familie ist arm und als jüdische Familie ständigen Demütigungen ausgesetzt. Die Mutter ist eingeschüchtert und überarbeitet, der Vater brutal und unbeherrscht. Er tyrannisiert die Familie und mißhandelt seine Kinder. Emma bezeichnet ihn als „den Alptraum ihrer Kindheit“. Sie haßt ihn und rebelliert gegen sein Vorhaben sie mit 17 zu verheiraten.
Emma Goldman_1916_über Geburtenkontrolle im Union Square Park
Sie will nach Amerika, dahin, wosie Freiheit vermutet. Als der Vater sich sperrt, droht sie ihm damit, Selbstmord zu gegehen. Er nimmt ihr das ab und läßt sie ziehen.
Sie geht mit ihrer Schwester nach Rochester, New York, und verdient sich ihren Lebensunterhalt durch Fabrikarbeit. Das ist sie gewohnt. Schon seit ihrem dreizehnten Lebensjahr hat sie als Textilarbeiterin gearbeitet, zuerst in einer Handschuh- und dann in einer Korsettfabrik. Aber obwohl die Kleiderfabrik in Rochester moderner ist, empfindet Emma die Arbeit als qualvoller als in Rußland. Dort hatten die Arbeiterinnen miteinander singen und sprechen dürfen, hier sind sie Teile der Maschinen, werden zur Eile angetrieben, dürfen ohne die Erlaubnis des Vorarbeiters nicht einmal zur Toilette gehen (der Taylorismus bahnt sich an).
Ihre fast tausend Seiten lange Biographie liest sich wie ein historischer Roman – dabei wird das echte Leben von Emma Goldman darin beschrieben, von ihr selbst verfasst am Ende ihres Lebens, in einer Villa an der Cote-d’Azur (die ihr übrigens von Peggy Guggenheim zur Verfügung gestellt wird), nachdem Emma enttäuscht und traurig ihr geliebtes Russland verlässt und sich ihr Freund und Mitstreiter Sascha (Alexander) Berkman, das Leben genommen hat. Sie schreibt: „Ich fand die russische Realität grotesk, ganz anders als das große Ideal, das mich auf dem Gipfel der Hoffnung in das Land der Verheißungen getragen hatte. Ich erlebte einen bolschewistischen Staat, der selbstherrlich war, jede konstruktive revolutionäre Anstrengung wurde zunichte gemacht, unterdrückt, erniedrigt und aufgelöst.”
Emmas Talent liegt im Reden schwingen. Das tut sie exzessiv! Obwohl sie hunderte von Malen dabei verhaftet wird und immer wieder Gefängisstrafen absitzen muss, ist sie nicht kleinzukriegen. Sie verspottet ihre Schergen und behauptet, es sei ihr egal, wo sie übernachte, Hauptsache, sie habe ein Buch zum Lesen dabei. Emma radikalisiert sich 1886 nach dem Haymarket-Aufstand in Chicago, bei dem es um die Reduzierung der Arbeitszeit von 12 auf 8 Stunden geht.
Exkurs Haymarket-Aufstand:
Bei einer Versammlung auf dem Haymarket-Square wird eine Bombe in die Menge geworfen: 12 Menschen sterben. Für das Attentat werden acht bekennende Anarchisten verantwortlich gemacht und ohne Beweise zu Tode verurteilt. Vier der Verurteilten werden ein Jahr später gehängt.
Emma reist nach Chicago, um zu protestieren und entdeckt dabei hr Talent mit Reden Menschen zu mobilisieren. Von da an wird sie in der Presse nur noch „die rote Emma“ genannt und im Laufe ihres Lebens zur Staatsfeindin Nr. 1 in den USA. Der Geheimdienst hält sie für die gefährlichste Frau der Welt.
1894 kommt es zu den größten Streiks in der Geschichte Nordamerikas: 50 000 Arbeiter der Eisenbahnwagons produzierenden Pullmannwerke legen die Arbeit nieder. Der Streik wird nach zwei Monaten blutig niedergeschlagen.
Emma ist Anarchsitin und Pazifistin, also gegen Krieg, aber für Tyrannenmord. (Sie ist allerdings gegen die Ermordung von Kaiserin Sissi, hält sich aber mit der Verurteilung der Tat öffentlich zurück – 1998 wird Sissi von dem Anarchisten Luigi Lucheni erstochen). Obwohl jede Publikation und Versammlung von Anarchisten verboten und sogar das Vermieten von Räumen an Anarchisten unter Strafe steht gründet Emma 1906 die anarchistisch-feministische Zeitung Mother Earth. Ein kämpferisches Blatt, geprägt von Aufrufen gegen die Ehe, zu freier Liebe, zu Verhütung, Abtreibung (darüber öffentlich zu reden ist allein schon strafbar, einer der Gründe, weshalb sie meist direkt nach ihren Auftritten verhaftet wird)
Es ist schwer für Emma eine Unterkunft zu finden. Niemand will eine Anarchistin beherbegen und ihre Freund_innen will sie nicht in Gefahr bringen. Nicht selten schläft sie auf der Strasse. Sie braucht Geld für ihre gemeinsamen Projekte. Sie arbeitet in der Textilfabrik. Sie eröffnet mehrmals in verschiedenen Städten eine Eisdiele. Klappt nur mittelmäßig. Einen Massagesalon. Auch nix. Dann unternimmt sie den Versuch als Prostituierte zu arbeiten. Funktioniert nicht. Sie verwickelt gleich den ersten Freier in ein politisches Gespräch. Er schenkt ihr das Geld so. Sie sei doch etwas zu anstrengend für ihn.
Trotzdem gelingt es ihr 1899 den Bau eines Tunnels zu finanzieren, um ihrem Freund Berkman die Flucht aus dem Gefängnis zu ermöglichen. Leider wird der Tunnel ein Jahr nach Baubeginn entdeckt. Sie befindet sich gerade in London und kann sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Bei all der Mühe, Armut und Strenge, die ihr das Leben abverlangt, ist Emma keine Kostverächterin: sie tanzt gerne, hat Liebschaften und Liebesverhältnisse, manchmal mehrere gleichzeitig. Sie kann gutes Essen und Trinken genießen, wenn dafür Geld übrig ist. Zitat: „Eine Revolution, in der nicht getanzt wird, ist keine Revolution.“
Und doch steht die Veränderung der Welt, die Verbesserung der Lebensbedingungen für alle, für sie an erster Stelle. Da ist sie hart im Nehmen.
Emma reist im Norden Amerikas herum, um Reden zu halten, um den Menschen die Augen zu öffnen, um in Sachen Anarchismus, Kommunismus und vor allem Feminismus zu agitieren (für Verhütung und Abtreibung und gegen Monogamie). Dabei wird sie regelmäßig festgenommen und eingesperrt. Als sie während des zweiten Weltkriegs zur Kriegsdienstverweigerung aufruft, wirft sie der amerikanische Geheimdienst kurzerhand in den Bauch eines Schiffes, das sie ins oktoberrevolutionäre Russland verfrachtet. Eine zwar unfreiwillig gereiste, aber doch hocherfreute Emma zuckelt in einem Eisenbahnwagon durchs Land, den sie als Revolutionsmuseum hergerichtet hat. Sie sammelt Geschichten und Artefakte und stellt sie dabei gleichzeitig aus.
Emma hat einen schier unerschütterlichen Willen, ihre Lebenssituation zu verändern – gegen alle Widerstände von Seiten der Familie, der Gesellschaft, der Staatsgewalt.
Emma Goldmann am 1.Mai
Dabei ist sie frech und unverschämt und hat die Chuzpe selbst in aussichtslosen Situationenihre Schergen zu verspotten. Bei einem ihrer vielen Prozesse, der dazu führt, dass sie für mehrere Monate ins Gefängnis muss, bringt sie den Richter mit ihren spitzen Bemerkungen so aus der Fassung, dass er wortlos und wutschnaubend den Gerichtssaal verläßt.
Mit der Ehe hat Emma das gleiche Problem, wie viele selbständigen Frauen:
sobald sie einen ihrer Kollegen aus der Fabrik geehelicht hat, wird er zum eifersüchtigen Berserk, der sie am liebsten zuhause einsperren würde. Nach der Scheidung verstehen sie sich wieder bestens. Sie heiratet ihn ein zweites Mal und es passiert derselbe Mist. Sie lassen sich wieder scheiden.
Emma erleidet 1940 einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen! Ausgerechnet sie, die die Liga für Redefreiheit gegründet hatte! Drei Monate später stirbt sie. Sie ist 70 Jahre alt. Sie wird in Chicago auf einem Friedhof ganz in der Nähe des Haymarket Squares begraben(eingewickelt in die Fahne des FIA-SAI, whatever that is!) What a life!
Kommentar einer Besucherin von letztem Mal: Hab grad mal meinen Anarcho-Freund zwecks der Flagge, in die Emma Goldmann „eingehüllt wurde, befragt zu (ich glaube so sagtest du es) FAI-CNT Federación Anarquista Ibérica – Confederación Nacional del Trabajo eine anarchosyndikaslistische spanische Gewerkschaft. Sie war ja auch im spanischen Bürgerkrieg 1936 sehr aktiv. Allerdings gibt es auch eine anarchofeministische Flagge, von der ich leider nicht so viel rausgekriegt hab.
Zeittafel Emma Goldmann:
1899 Emmas Vortrag über Sexualität sorgt für Tumult in den eigenen Reihen, weil sie, wie später in ihrem berühmten Essay Marriage and Love, die Parallelen zwischen Ehe und Prostitution aufzeigt
1900 Weltausstellung in Paris und geheimer Internationalen Anarchistenkongreß. Dort darf sie nicht! über Abtreibung und Verhütung sprechen. Wütend zieht sie ab.
1901 Leon Czolgosz erschießt den amerikanischen Präsidenten William McKinley. Polizei und Presse ist davon überzegt, dass er von Emma zu dieser Tat inspiriert wurde.
1902 Verabschiedung des Criminal Anarchy Law, das jede Publikation und Versammlung von Anarchisten verbietet und das Vermieten von Räumen an Anarchisten unter Strafe stellt
1903 Emma gründet die „Liga für Redefreiheit“
1904 Emma eröffnet in New York eine Massagesalon
1906 Emma gibt die erste Ausgabe von Mother Earth heraus
1905 die erste russische Revolution scheitert
1905 Gründung der IWW (International Workers of the World), Unterschied zu herkömmlichen Gewekschaften: Frauen, Wanderarbeiter und Ungelernte gehören dazu 1910 erster internationaler Frauentag am 19. März
1910 und 1911 Emma hält hunderte von Vorträgen vor tausenden von Leuten und veröffentlicht ihr erstes Buch Anarchism and other Essays. Sie verkauft 1500 Exemplare.
1912 Textilarbeiterinnenstreik „Brot und Rosen“ (20 000 Arbeiterinne streiken)
1914 Beginn erster Weltkrieg
1916 erster Massenstreik Berliner Arbeiter gegen den Krieg (Liebknecht wird verurteilt) 1917 Oktoberrevolution, Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg. Emma ruft zu Kriegsdienstverweigerung auf. Sie wird des Landes verwiesen, geht aber nicht.
1918 Ende des ersten Weltkriegs, Gründung der roten Armee unter Trotzki
1919 Emma und Sascha werden vom amerikanischen Geheimdienst mit 200 weiteren Anarchisten nach Russland transportiert. Erst auf hoher See werden ihnen die Fesseln abgenommen.
Emma 1919, Deportation
die „russische Arche“, auf der Emma deportiert wird
1921 nach dem Kronstädter Aufstand der Seeleute und seiner blutigen Niederschlagung durch die rote Armee, verlassen Emma und Sasha
Russland – enttäuscht schreibt Emma das Buch My Disillusionment in Russia (Ernüchterung in Russland)“, der Verlag läßt 12 wichtige Kapitel weg.
„Ich fand die russische Realität grotesk, ganz anders als das große Ideal, das mich auf dem Gipfel der Hoffnung in das Land der Verheißungen getragen hatte. Ich erlebte einen bolschewistischen Staat, der selbstherrlich war, jede konstruktive revolutionäre Anstrengung wurde zunichte gemacht, unterdrückt, erniedrigt und aufgelöst.”
1927 beginnt Living my Life in St.Tropez zu schreiben, in den USA beginnt die grosse Depression
1931 Living my Life wird in New York veröffentlicht und gilt als bestes Buch des Jahres 1933 Emmas Versuch breiten Protest gegen die Machtergreifung der Nazis zu organisieren mißlingt, weil sie auf der Sowjetunion so herumgehackt hat
1935 Emma reist durch Frankreich und England, hält Vorträge über Hitler, Mussolini und Stalin, aber kaum jemand will das hören
1936 Sasha hat Krebs und nimmt sich das Leben
Der spanische Bürgerkrieg beginnt. Emma geht nach Barcelona und arbeitet im internationalen Pressebüro. Sie ist jetzt 67 Jahre alt.
1939 Francos Sieg über die spanischen Anarchisten. Beginn des zweiten Weltkriegs. Müde geht Emma nach Toronto.
1940 Emma erleidet einen Schlaganfall. Drei Monate später stirbt sie. Sie ist 70 Jahre alt.