9. Nellie Bly (1864-1922)

Nellie Bly 1864 – 1922
(Elizabeth Jane Cochrane)

 

Nellie Bly ist die Erfinderin des investigativen Journalismus. Sie wettet (1889), dass sie in weniger als 80 Tagen um die Erde reisen könne, also schneller als der von Jules Verne erfundene Phileas Fogg aus Vernes 1873 erschienenen Roman Le Tour du monde en quatre-vingts jours. Nellie Bly gelingt die Tour in 72 Tagen, 6 Stunden, 11 Minuten und 14 Sekunden, mit einem Handgepäck von nur fünf Kilo Gewicht und in einem einzigen karierten Kostüm, das in den darauf folgenden Jahren der Modehit Nr. 1 für die moderne New Yorkerin sein wird.

Nellie hetzt sich bei ihrer Weltumrundung derartig ab, dass sie nur wenig Empathie aufbringen kann, für die Menschen, deren Länder sie da durchreist. Sehr untypisch für sie, denn in der Regel prangert sie Missstände unerschrocken an. Sie läßt sich zum Beispiel in eine verrufene New Yorker Frauenpsychatrie (auf Blackwell’s Island) einweisen, um über die unmenschlichen Zustände dort berichten zu können. Die Psychtrie wir wird daraufhin aufgelöst.

Nellie Bly heißt garnicht Nellie Bly, sondern Elizabeth Jane Cochran(e) und wird am 5.Mai 1864 in Cochran’s Mills im Staat Pensylvania, geboren.

Nellie Bly, so heißt die Hauptfigur in einem zu dieser Zeit sehr beliebten Country-Song von Stephen Foster (das ist so, als würde sich eine Journalistin Anfang der 1970er Jahre Conny Kramer genannt haben).

Nelly wächst erst mal in relativem Wohlstand auf: ihr Vater ist Mühlenbesitzer und Bezirksrichter, ihre Mutter kommt aus einer reichen Familie. Nelly ist das jüngste Kind von 13. Als sie sechs Jahre alt wird, stirbt der Vater. Die Familie verarmt, weil der verschwenderische Stiefvater das Geld der Mutter in kürzester Zeit verpulvert. Selbst Nellies Erbe, womit sie eigentlich ihre Ausbildung als Lehrerin finazieren will, geht dabei drauf. Sie muss die Schule verlassen und auf Arbeitssuche gehen. Sie stößt dabei auf einen unsäglichen Artikel im Pittsburgh Dispatch: „Wozu junge Frauen gut sind“. Ihre einzige Aufgabe bestünde darin, zu kochen, zu bügeln und das Haus in Ordnung zu halten. Dass sie als Verkäuferinnen oder Sekretärinnen arbeiten gehen wollen, sei eine Ungeheuerlichkeit! Nellie explodiert und setzt sich

sofort an einen wütenden Leserbrief, den sie mit „Lonely Orphan Girl“ (einsames Waisenmädchen) unterschreibt. Der Herausgeber der Zeitung ist von der Wortgewandtheit ihres Protestes so angetan, dass er ihr gleich eine Stelle als Reporterin anbietet. Sie solle sich nur einen attraktiveren Namen wählen. Sie nimmt sie das Angebot an. Und verwandelt sich in die Journalistin Nellie Bly. Sie will über echte Belange von Frauen schreiben und erfindet eine neue, nie dagewesenen Methode, das zu tun:

„Ich frage mich, ob die Geschichten, die Arbeiterinnen über ihre niedrigen Löhne und die grausame Behandlung erzählen, der Wahrheit entsprechen. Es gibt nur eine Möglichkeit dies herauszufinden: indem ich selbst eine von ihnen werde.“ Sie nimmt vorübergehend eine Arbeit in einer Stahlfabrik an und schreibt eine kritische Serie über den Alltag der Fabrikarbeiterinnen in der Stahlindustrie (immer noch unter dem Pseudonym „Lonely Orphan Girl“) Als das zu Protesten von Seiten der Unternehmer führt, wird sie in eine harmlosere Abteilung der Zeitung versetzt. Sie soll ab jetzt nur noch über Mode, Garten und Dinerpartys schreiben. Da sie sich damit nicht zufriedengeben will, wirft sie im Frühjahr 1887 ihre feste Anstellung für den Pittsburgh Dispatch hin und reist mit ihrer Mutter als Anstandsdame nach Mexiko. Von dort schickt sie dem Pittsburgh Dispatch ab und zu Reportagen, über das mexikanische Leben, die Besonderheiten der mexikanischen Kultur, über die extreme Armut der Bevölkerung und vor allem über die Korruption der mexikanischen Beamten – bis die mexikanische Regierung die Faxen dicke hat und sie des Landes verweist. Sie will nicht zurück ins langweilige Pittsburgh, sondern startet gleich durch nach New York. Sie bewirbt sich bei Joseph Pulitzers New York World, der damals größten Tageszeitung der USA. Und wird genommen. Ihr erster Auftrag ist es, über die Zustände in einem Asyl für nervenkranke Frauen auf dem New YorkerBlackwell’s Island im East River zu berichten. Um diese Reportage schreiben zu können, läßt sie sich unter dem Namen „Nellie Brown“ und unter der Vorgabe nur Spanisch zu sprechen für zehn Tage einweisen, um so am eigenen Leibe die Behandlung sowie die Lebensumstände der Patientinnen zu erfahren. Nach zehn Tagen wird sie von den Anwälten der Zeitung aus der Anstalt herausgeholt. Aus Nellie Brown wird wieder Nellie Bly. Sie schreibt über ihre Erfahrungen mit Ärzten, die sie aufgrund ihres vorgetäuschten Mangels an englischen Sprachkenntnissen für verrückt erklärten, über ihre Vermutung, dass es anderen Frauen nicht anders ergangen sei, die wahrscheinlich genauso gesund seien wie sie, lediglich kein gutes Englisch sprechen oder für sexuell untreu gehalten werden. (auch ein Grund als verrückt eingestuft zu werden). Sie schreibt über das faulige Essen, den erniedrigenden Alltag und die schlechte hygienische Versorgung. Ihr Artikel über diese katastrophalen Zustände führt zu einer gerichtlichen Untersuchung und letztlich zur Schließung der Anstalt. Ihre Art des verdeckten Recherchierens wird von nun an zum Markenzeichen ihrer journalistischen Arbeit. Ihr investigatives Vorgehen macht sie berühmt und macht Schule. Vor allem unter jungen Journalistinnen findet ihre Arbeitsweise Nachahmerinnen. „Girl stunt reporters“ und „Newspaper Women“ krempeln die amerikanische Zeitungsbranche um und bringen der Zeitungswelt neue Sichtweisen und Leser_innenkreise ein. Nellie schreibt Artikel über korrupte Politiker, über Kinderhandel, über Gefängnisse oder über die Zustände auf dem Straßenstrich im Central Park. Sie interviewt Belva Lockwood , die Präsidentschaftskandidatin der Woman Suffrage Party, den blutrünstigen Bisonjäger und Indianerkiller Buffalo Bill, sowie die Frauen von drei Präsidenten (Grant, Garfield und Polk). Sie schreibt mehrere Artikel über die dubiose Oneida-Gemeinde, eine kommunistische Sozialkommune, die die bürgerliche Ehe ablehnt und Sex nur duldet bei beiderseitigem Einverständnis (berühmtester Anhänger Aldous Huxley). Nellie Bly verkündet, niemals zu heiraten zu wollen.

Nellie dürstet es dannach, „Dinge zu tun, die noch keine Frau je getan hat“. Da lockt sie Pullitzer eine unglaubliche Wette einzugehen: in weniger als 80 Tagen um die Welt zu reisen – und sie schlägt ein. Sie hat eine Woche Zeit sich vorzubereiten – alle nötigen Visa werden von der Zeitung beantragt und in London auf sie warten. Nellie läßt sich schnell ihr berühmtes kariertes Mantelkostüm schneidern, packt ihre Reisetasche, die grad mal 5 Kilo schwer ist und immer noch eine ganze Menge unnützes Zeug enthält, wie Nellie nach der Reise zugeben wird.

„In meiner Tasche konnte ich folgendes unterbringen: zwei Reisemützen, drei Schleier, ein Paar Pantoffeln, einen kompletten Satz Toilettenartikel, ein Tintenfaß, Füllfederhalter, Bleistifte und Durchschlagpapier, Stecknadeln, Nadeln und Faden, einen Schlafrock, einen Tennis-Blazer, eine kleine Flasche und eine Tasse, diverse Garnituren Unterwäsche, einen großzügigen Vorrat an Taschentüchern und Rüschen und, am unhandlichsten und sperrigsten von allem, einen Tigel Cold Cream, damit mein Gesicht angesichts der vielfältigen mir bevorstehenden Wetterlagen nicht rissig würde… über dem Arm trug ich einen seidenen Regenmantel.“(Around the world in 72 days, S.45)

 

Was sie leider vergißt ist ein Photoapparat. Die gibt es nämlich schon. Sie wird zwar überall von der Presse erwartet, aber es gibt auch lange Tage, in denen niemand so recht weiss, wo sie sich gerade befindet. Sie steckt zum Beispiel eine Weile im Suezkanal fest. Das wären sicher aufschlußreiche Photos geworden…

Nellie ist 25 Jahre alt und startet am 14. November 1889 in New York mit dem Ozeandampfer „Augusta Victoria“ gen Osten. Sie hat noch nie den Fuß auf ein Boot gesetzt und kotzt durch bis Southhampton. Auf dem Landweg nach London, Visa abholen, gleich weiter über Calais nach Frankreich, um in Amiens dem alten Jules Vernes und seiner Frau einen Besuch abzustatten. Sie spricht kein Französch. Lächelnd wird Tee getrunken und das Arbeitszimmer von Jules bestaunt, also der Ort an dem Foggs Reise und somit auch ihre, erfunden wurde. Nellie verliert mit diesem Besuch einen Tag und hetzt jetzt zügig weiter. Die Reise ist ein Rausch. Viel bekommt sie nicht mit. Weiter, weiter, weiter. Auch wenn sie immer in modernsten Verkehrsmitteln meist erster Klasse reist, und nie lebensbedrohlich verwickelt wird, also vergleichsweise bequem unterwegs ist (vor allem im Vergleich mit unseren anderen Protagonistinnen), so hat sie doch kaum eine Sekunde der Besinnung. Aufs Schiff in Brindisi, weiter nach Port Said, durch den Suezkanal, Aden im Jemen, Colombo auf Sri Lanka. In der Mitter der Tour erfährt Nellie, dass sie eine Konkurrentin hat. Das New Yorker Magazin Cosmopolitan hat ebenfalls eine Frau um die Welt geschickt: Elizabeth Bisland. Die reist allerdings westwärts und hat schon mehr als die Hälfte der Reise geschafft. Noch mehr Eile ist angesagt: Singapur, Hongkong, Yokohama. Dann endlich San Francisco und weiter über Land mit einem Sonderzug der New York World zurück nach New York! Am am 25. Januar 1890: Geschafft! In 72 Tagen, 6 Stunden, 11 Minuten und 14 Sekunden! Nellie Bly ist jetzt der schnellste Mensch der Weltumrundung! Das war knapp! Vier Tage später trifft Elizabeth Bisland ein – auch sie hat die 80 Tage unterboten. Pulitzer hatte aus Nellies Reise ein riesiges Medienevent gemacht. Es gab ein Preisausschreiben, während sie unterwegs war! Eine Million Menschen wetten mit: wer die genaue Ankunftszeit von Nellie Bly voraussagt, darf selbst durch Europa touren. Beim Endspurt durch die Vereinigten Staaten wird sie gefeiert, wie man es heute nur von Popstars kennt. Fans decken sich mit Nellie-Bly-Brettspielen, Nellie-Bly-Globen und Nellie-Bly-Reisekleidern ein. Nellie ist fertig mit den Nerven. Klar: sie ist jetzt weltberühmt. Und reich.

Sie muss zahllose Vorträge halten, weil es die Zeitung von ihr verlangt. Sie hat sich unterwegs nicht gerade mit politisch korrektem Ruhm bekleckert. Die Bewohner der Länder, die sie durcheilt hat, werden in kränkender und beleidigender Weise heruntergeputzt. Manche ihrer Leser halten das für koloniale Ignoranz, andere eher für „feine“ Ironie. Vermutlich ist es eine Mischung aus beidem: sie will überlegen und originell schreiben und hat einfach keine Zeit sich in die unterschiedlichen Lebenswelten hineinzudenken – wie sie das sonst ja immer macht.

Und dann plötzlich kündigt sie bei der New York World. Sie macht eine journalistische Pause und versucht sich als Romanschriftstellerin. Leider wird keiner ihrer Romane veröffentlicht. Schade.
Nach drei Jahren kehrt Nellie zum Journalismus und zur New York World zurück. Im Mai 1894 reist sie nach Chicago und berichtete über den Pullman-Streik, den größten Arbeiterprotest in der amerikanischen Geschichte. Natürlich ist sie nicht die einzige Berichterstatterin. Es gibt hunderte. Aber sie ist die einzige, die über die Lebensbedingungen der Streikenden berichtet. In diesem Kontext interviewt Nellie die Anarchistin Emma Goldman (nach der die deutsche feministische Frauenzeitung „Emma“ benannt ist) und den Sozialisten Eugene Debs, der als Parteivorsitzender der Sozialistischen Partei Amerikas fünf mal für das Amt des US-Präsidenten kandidierte (Selbstredend erfolglos. Emma Goldmann wird 1919 nach Russland deportiert, nachdem ihr die amerikanische Staatsbürgerschaft abgesprochen wurde – wir werden an anderer Stelle darüber berichten).

Und wie geht es mit Nellie weiter? Tatsächlich verpasst sie ihrem Leben nochmal eine extreme Wendung:
1895 heiratet Nellie Bly mit 31 Jahren den 73-jährigen Stahlmillionär Robert Seaman. Sie kennt ihn erst drei Wochen. Seine Familie ist entsetzt! Sie übernimmt die Führung des Unternehmens, der Iron Clad Manufacturing Company, und erbt nach seinem Tod 1904 sein gesamtes  Vermögen. 

Leider ist die Firma nach fünf Jahren bankrott. Nicht etwa, weil sie sich verkalkuliert hat, sondern weil einer ihrer vertrautesten Mitarbeiter sich mit dem gesamten Geld vom Acker gemacht hat. Wie konnte sie so blind sein? Liebe? Hatte sie sich nicht geschworen, die Dummheit ihrer Mutter nicht zu wiederholen?

Geknickt macht sie 1914 eine Geschäftsreise nach Wien, einerseits um einem Haftbefehl zu entgehen, andereseits in der Hoffnung dort einen Investor und damit einen Weg aus dem Ruin zu finden. Daraus wird nichts. Der erste Weltkrieg bricht aus. Sie bleibt bis zu seinem Ende als Kriegsberichterstatterin in Österreich. Liegt zeitweise in Schützengräben direkt an der Front. Erst 1919 kehrt sie in die U.S.A. zurück. Sie schreibt eine regelmäßige Ratgeberkolumne für das New York Evening Journal Sie engagiert sich für die Unterbringung von Waisenkindern – adoptierte selbst ein Kind. Doch kurz darauf stirbt Nellie Bly unerwartet an einer Lungenentzündung. Sie ist 57 Jahre alt.

Sie wird auf dem Woodlawn Cemetery in den Bronx begraben. In guter Gesellschaft mit den Frauenrechtlerinnen Carrie Chapman Catt und Elizabeth Cady Stanton und ihrem alten Chef Joseph Pulitzer.

Bücher von Nellie Bly

  • Zehn Tage in einem Irrenhaus; oder Nellie Blys Erfahrung auf Blackwell’s Island. 1887.
  • Sechs Monate in Mexiko . 1888.
  • Das Geheimnis im Central Park . 1889.
  • Überblick über die Bibeltheologie! Aus einem Brief einer Dame an die New Yorker Welt vom 2. Juni 1889 . 1889.
  • Nellie Blys Buch: In zweiundsiebzig Tagen um die Welt . 1890.
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vonpaula

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