5. Nastassja Martin * 1986 

Reisen zu einem bestimmten Ziel – Forschungsreisende

5. Nastassja Martin * 1986
Porträt: Julia Sand 2021 –  Acryl auf Papier

Französische Kulturanthropologin und Schriftstellerin und Schülerin des weltbekannten Etnhnologen Philippe Descolas. Ihr besonderes Interesse gilt der Kosmologie und den Animismen der Völker Alaskas. Schon für ihr erstes Buch über die Innuit Alaskas erhält sie den Prix Louis Castex der Académie française. Ihre letzte grosse Forschungsreise führt sie 2015 auf die russische Halbinsel Kamtschatka. Dort begegnet sie einem Bären, der sie fast tötet. Schwer verletzt entkommt sie und schreibt während ihrer inneren und äußeren Genesung ein Buch, das unbedingt gelesen werden muß: An das Wilde glauben, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021, aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer 

© Caroline Chavalier pour Télérama

 

Nastassja Martin besucht auf der Halbinsel Kamtschatka eine kleine Gruppe von Nomaden und lebt für mehrere Monate mit ihnen zusammen. Sie will herausfinden, welches Leben Menschen führen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Verschwinden der Werftidustrie weiterleben. Die Ewenen zum Beispiel, eine Gruppe, die vor der Sowjetzeit Rentierzüchter waren und als Nomaden lebten, kehren zu ihrer vorsowjetischen Lebensweise zurück. Nastassja Martin befreundet sich mit einer dieser Familien und wird quasi adoptiert. Die Clanführerin Daria wird von ihr Mutter genannt.

Nach ihrer Begegnung mit dem Bären unterzieht sie sich jahrelangen Behandlungen, um ihre physischen Wunden in den Krankenhäusern Sibieriens und Frankreichs auszuheilen: ihr rechtes Jochbein ist zertrümmert, ein Teil des Kiefers fehlt… Ihre traumatischen Verletzungen wollen jedoch nicht „verheilen“. 

Ich spüre „den Kuss des Bären, seine Zähne, die sich über mein Gesicht schließen, meinen krachenden Kiefer, meinen krachenden Schädel, die Dunkelheit, die in seinem Maul herrscht, seine feuchte Wärme und seinen stark riechenden Atem, das Nachlassen des Drucks seiner Zähne, meinen Bären, der es sich plötzlich auf unerklärliche Weise anders überlegt, seine Zähne werden nicht die Werkzeuge meines Todes sein, er wird mich nicht verschlingen“.

Nastassja Martin schreibt seit Jahren über Grenzen, Ränder, Liminalität, Zwischenwelten und wird in der Begegnung mit dem Bären direkt an diesen Ort geworfen, von dem sie genau weiß, wenn sie von dort zurückkommt, wird ihr Leben ein anderes sein. 

Sie ist genervt von den Psychologinnen in den französischen Krankenhäusern, aber auch von ihren Landsleuten und Freund_innen, die sie in erster Linie darum bedauern, dass sie durch die Bisse des Bären ihre Schönheit verloren hat. Sie kehrt nach Kamtschatka zurück in der Hoffnung sich in der animistischen Welt der Ewenen mit ihrem Trauma besser aufgehoben zu fühlen. Doch ihre ewenische Familie macht sie zu einer Art religiösen Würdenträgerin, zu einer „miedka“, einem Wesen zwischen Mensch und Bär, zu dem sie sich ebensowenig berufen fühlt. Sie kehrt nach Frankreich zurück und schreibt das obengenannte Buch. Ihre innere Heilung setzt sich in Gang. Und nicht nur das. Wir Leser_innen geraten in eine völlig neue Sichtweise auf das was wir nicht zu kennen glauben. 

Was fehlt:

Nastassja Martin koproduzierte mehrere französisch-grönländische Dokumentarfilme mit dem Filmemacher Mike Magidson, darunter Tvaïan (Point du Jours/Arte). Einer der wichtigsten neueren  aus Grönland ist der Film Inuk (2010), der zahlreiche Preise für Regie, Schnitt und Kameraführung erhielt. Im Mittelpunkt des Abenteuerfilm, des in Europa lebenden Regisseurs Mike Magidson (* 1967), an dessen Drehbuch Ole Jørgen Hammeken und der Anthropologe Jean-Michel Huctin mitwirkten, steht ein 16-jähriger Junge aus Nuuk, der davon träumt, eine Inuit-Rockband zu gründen, aber von seiner alkoholsüchtigen Mutter vernachlässigt wird und in den Norden zu den Robbenjägern, also zu seinen kulturellen Wurzeln zieht. Auf dieser Jagdreise gerät er in Lebensgefahr. Produzentin war die auf den Färöern geborene Ann Andreasen, die das nördlichste Kinderheim der Welt in Uummannaq leitet.

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vonpaula

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