Wie schon in den vier zusammenhängenden Romanen Ferrantes aus den vergangenen Jahren, kann man (unter anderem) in der Erzählung von Giovannas dreizehnjärigem Leben eine italienische Variante der von Eribon für Frankreich analysierten Klassenscham entdecken, die dieser in Rückkehr nach Reims so eindringlich beschreibt. Diesmal nur in der zweiten Generation: Giovannas Eltern haben bereits den Sprung aus dem Proletariat in die akademische Mittelschicht geschafft und wünschen sich nun für ihr einziges Kind einen weiteren glänzenden Aufstieg. Mit sanftem und Verständnis vortäuschendem Druck hieven sie Giovanna hinauf in die noblen Stadtteile Neapels, die mit den Villen, der guten Luft, dem herrlichen Blick aufs Meer (Vomero, Rione Alto, Posillipo) und vor allem weit weg vom Pascone und der Zona Industriale.
Aber die Tochter revoltiert. Sie lauscht ungewollt an der Schlafzimmertür ihrer Eltern und bekommt in nie gehörtem vulgärem Dialekt eine launige Bemerkung ihres Vaters zu hören, der ihre Person betrifft und empfindlich trifft: Giovanna schlage doch ganz nach Tante Vittoria, an die sich Giovanna nur dunkel erinnern kann und von der es heißt, sie sei nichts als gehässig und dazu abgrundtief häßlich. Giovanna trifft der Schlag: Ihr über alles geliebeter Vater verwirft ihren Körper, findet sie hässlich, verdorben, nichtig. Jetzt will sie diese Tante treffen, unbedingt. Ihre Eltern ahnen den Auslöser, versuchen die Bemerkung des Vaters abzuschwächen, entschuldigen sich mehrmals, doch Giovanna bleibt stur: sie will Tante Vittoria sehen! Die Eltern geben klein bei, wenn auch zerknirscht und Giovanna wird vom Vater in den Stadtteil Pascone gebracht, um den abgespaltenen Teil ihrer Familie kennen zu lernen.
Und sie ist begeistert von allen, die sie da kennen lernt, vor allem von Tante Vittoria! Diese stürzt sich buchstäblich auf die verloren geglaubte Nichte, überschüttet sie mit ihrem unendlichen Wissen über die Liebe, vor allem auch die körperliche. Eine halbheimliche, verwirrende Freundschaft zwischen Tante und Nichte nimmt ihren Lauf, bis… ja… bis Giovanna erwachsen geworden ist. Oder zumindest das Erwachsensein beherrscht. Ähnlich wie die Ohrringe in Max Ophüls Film „Madame de…“ spielt ein wertvolles Armband dabei eine nicht unwesentliche Rolle!
Elena Ferrrante ist ein Pseudonym. Es wird viel darüber spekuliert und geforscht, wer dahinter stecken könnte. Bisher scheinbar ohne Erfolg, denn die Autorin ließ verlautbaren, dass sie aufhören würde zu schreiben, wenn man sie entlarve. Lasst uns hoffen, dass das nie geschieht!
Elena Ferrante
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
ISBN 978-3-51842-952-5
Suhrkamp 2020 – 24,00 €
Originaltitel: La vita bugiarda degli adulti Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger