Marie-Luise Scherer
Was macht eine gute Reportage aus – was ist sie wert, wenn man sie 20 Jahre später gerne lesen mag. Wie wird die Journalistin geachtet, dass ihre „Geschichten“ zwischen Buchdeckel geraten – Jahrzehnte nachdem sie aufgeschrieben wurden.
Vor drei Jahren ist M.L. Scherer gestorben, offensichtlich hat sie länger in Berlin gelebt, und auch in Paris, und wo sie war, hat sie einen eigenen Blick gehabt, und damit zu erzählen gewusst.
So denke ich, und habe jetzt zwei kleine Bände auf dem Tisch liegen – und die ganzen Vorschusslorbeeren drumherum.
Aufmerksam wurde ich, als ich von einem Kunden der Buchhandlung Paul+Paula hörte, dem es jetzt nicht mehr so gut ginge, und als ich zu seinem Namen fragte, ich über eine Geschichte stolperte, in dem Er von dem Lokal `Litfin` in Kreuzberg erzählte, dass in den 70ern die gebratenen Milchmasthühner auf der Speisekarte hatte….
Heute heisst die Gaststätte ‚Die Henne‘ – und so wie einst geht der Name auf die Eigentümer zurück – aber da das hier keine Restaurantkritik werden wird – zur Sache. Unter dem Namen `Litfin` findet das Lokal – ganz am Rande – Platz in einer seitenlangen Reportage, die man im Archiv des `Spiegel` wiederfinden kann:
hier beschreibt M.L. Scherer das Schicksal einer Frau, die in dem Dreh um die Waldemarstraße buchstäblich verloren ging – und 6 Jahre später ebenda tot geborgen wurde. Kreuzberg, die 80er Jahre, heruntergekommen und Anziehungspunkt für junge Leute aus der westdeutschen Provinz – Abgründe der OFF Kultur, der Sanierungspraktiken, der Ausländerintegration und der Segregation – auch wenn dieses Vokabular nicht auftaucht – hier kann man es nachlesen, spüren und riechen – wie es wohl war (und das Hühner Lokal war SchickiMicki mehr als heut`).
Derlei Reportagen waren / wurden wohl bekannt – Frau Scherer erhielt mehrere Preise – . Sie hatte ihren Job beim Spiegel über 20 Jahre, auch wenn sie nur zwei Geschichten im Jahr ablieferte, sie war von Augstein eingeführt worden, als eine, die den Blick hat ( und es zu formulieren weiss) – ohne studiert zu haben.
Die Geschichten wurden, werden `verlegt`, d.h. man kann sie kaufen. Und anders als heute gerne zu kurz geratene Blinzeleien im Tiegel der Grossstadt, gefällt die Beschäftigung mit den Protagonisten und ihren Randfiguren. Das begeisterte offensichtlich nicht nur ihre Berufskollegen, davon könnten sich die Redaktionen auch heute ‚eine Scheibe‘ abschneiden, damit sie nicht zu schnellen einflüsternden Bloggern verkommen – hier ist das Werk einer „Woman Under The Influence“ zu entdecken- die keine Influencerin sein wollte.
Ein Lesetipp von Thomas Lang




Die Hunde Grenze, Matthes+Seitz, 2018, 86 S. – 10 €
Die Bestie von Paris, Matthes+Seitz, 2023, 193 S. – 20 €
Unter jeder Lampe gab es Tanz, Wallstein Verlag, 2014, 80 S. – 14,90 €
Der Akkordeon Spieler, Friedenauer Presse, 2023 – 20 €