Eine Geschichte Berlins
„Du hast doch schon so viel von Berlin“ – aber nun weiss ich, das es aus dem Sumpf kommt.
Ein Buch in der Auslage bei Paul+Paula erweckt meine Aufmerksamkeit: „….Ja, wir haben da so ein
paar Stadtplaner in unserem Kundenkreis – da mag das bestellt worden sein, und dann kam es anders …“.
Für mich kam es recht, ein paar Tage bin ich eingetaucht in die „Gezeiten der Stadt“ von Kirsty Bell, bin wieder aufgetaucht – und inspiriert und empfehle es weiteren Lesern.
Auf der Seite 170 in der „Gemordeten Stadt“ , hrsg. 1964, ein Foto vom Schöneberger Ufer: zu sehen ein eingezäunter Vorgarten an einer Strassenecke mit Frühlingsblumen, im Hintergrund die S-Bahn auf dem Viadukt, das Wasser nicht zu sehen. W.J.Siedler schreibt in seinem Vorwort, es sei „auch neue Sehnssucht nach dem Häusermeer geweckt. Mit grosser Zudringlichkeit beginnt man sich der Individualität von Stadtlandschaften zu vergewissern“. (gibt es Sehns Sucht oder war das nur ein Schreibfehler in der vergriffenen Ausgabe?).
Hier hat die Autorin das Tempelhofer Ufer mit ihrem Blick aus dem Fenster gewählt, ein Wimpernschlag entfernt, den Kanal hinab, und doch vielleicht auch diese Ecke mit erwähnt, vielleicht gar mit dem Daihatsu Händler bestückt. Stimmt das – hatte sie da recht? Ende der 70er Jahre, ein Daihatsu Händler in West-Berlin? Mein schnelles Hinterherwischen ergibt, dass erst 1979 in Brüssel eine europäische Niederlassung, das der Konzern sehr populär war mit seinen Kleinst-Wagen, das in Japan gar 40% mit diesen max.Abmessungen 1,48m x 3,48m unterwegs sind, steuerbegünstigt, von Stellplatzregeln befreit.
Ein Augenzwinkern – dieser Lapsus – in ihrer Recherche – wenn ich überhaupt „Recht“ habe. Sie sei eher eine Leserin als eine Historikerin ist in dem Buch zu lesen, und das hat mich dann auch in den Bann genommen. Subjektive Sichten sind von jeher angreifbarer und gerade die Geisteswissenschaften täten gut daran, sich nicht in rechthaberischen Recherchen zu verzetteln, und sich von Schriftstellerinnen wie dieser etwas abzuschauen, wie Stadt gesehen wird.
Natürlich ist es nur „Eine Geschichte Berlins“, wie der Untertitel vorweg einstimmt. Und sie driftet ( man könnte auch schlittern sagen) und damit bin ich bei den sprachlichen Assoziationen, über die ich manches Mal gestolpert, und dann im Text weitergewandert bin.
Was ist eine Stasis ? Ich bin mir nicht sicher, ob Kirsty Bell sich in der sprachlichen Übersetzung dieses Begriffes, der mir so nicht gebräuchlich war, tatsächlich wiederfindet, und doch ist ihr Beschreiben über das Auseinandergehen ihrer Ehe und die immer ach noch so stereotypen Rollen von Mann und Frau in so vielen Feinheiten und Beobachtungen gut getroffen, dass ich am Ende mich über mich selber ärgere, mich mit solchen Petitessen abzugeben – und will nicht weiter herumkritteln.
Doch das muss noch erwähnt werden : GEZEITEN DER STADT – im Originaltitel THE UNDERCURRENTS – der deutsche Titel der Übersetzer passt nun eigentlich nicht – nicht zum Buch und seinem Inhalt, das gerne die verborgenen Strömungen aufnimmt, ihnen nachspürt, ihren Spuren und Zeugnissen beim Blick aus dem eigenen Fenster und darüber hinaus, beim Blick an die Decke und dem Grübeln über die Ursachen dieser Wasserschäden, ihrem Omen, dieses Moder, des Morastes und der Strudel. Doch die Übersetzer wurden von dem „NEUSTART KULTUR“ gefördert, und über 333 Seiten habe ich nur noch manches Mal angeeckt: Scharouns Staatsbibliothek mit den rechten Winkeln allüberall?- nein, das werde ich falsch verstanden haben. Sehr gut habe ich mich eingefunden in der bildlichen Sprache zu Lenné, A.Menzel, Luxemburg, Roth, Fontane, Fassbinder, Frecot und M.Schmidt . Und ja, dass die Sicht von Frauen auf diese Stadt noch mehr Stellenwert verdient: Düttmann, Stimmann, Regula und dann ? wird nebenbei und doch stetig in homöopathischen Dosen in die Zeilen eingewebt.
Oder eben auch „janz neutral gegendert“ und ich erlaube mir noch einmal aus „Die gemordete Stadt“ zu zitieren, genauer hier einen Spruch von Jean Paul zu entnehmen :
„In einer großen Stadt zum Fenster hinaussehen, gibt eine epische Stimmung: in einem Dorfe nur eine satirische oder auch idyllische“. Oder, um selber assoziativ in ein anderes Genre hinüber zu wechseln und mit einem Zitat des Maler Frank Auerbach zu schliessen, das auch die Autorin in ihrer Jugend im Londoner Norden mit aufgenommen haben mag : „Dieser Teil Londons ist meine Welt. Ich wandere nun schon so lange durch diese Straßen. Ich hänge sehr an ihnen und habe sie so lieb wie andere Menschen ihre Haustiere“.
Eine Buchempfehlung von T.Lang, 03.2022
KIRSTY BELL – GEZEITEN DER STADT
Eine Geschichte Berlins
ISBN 978-3-98568-005-4
Kanon Verlag, 2021 333 S. – 28,00 €