Marie-Luise Scherer Der Akkordeonspieler

Wo sind sie hin, die Akkordeonspieler?

Jeder kennt ihn wohl, den Akkordeonspieler, der in einer anonymen U-Bahnstation über sein Instrument gebeugt musiziert, mit einem verschämten Hinweis an der Blechdose, die vor ihm steht, das er sich über Spenden freut? Früher, in den 90er Jahren, jedenfalls gehörte er zum Stadtbild von Berlin. Jugendlich-modische Musik-Weltenbummler mit Gitarren haben diese eher verloren wirkenden Akkordeonspieler scheinbar verdrängt.

Tatsächlich spielt dieser 145-seitige Roman der Schriftstellerin und Malerin Marie Luise Scherer in den 90er Jahren. Ihr Akkordeonspieler heißt Wladimir Alexandrovitsch Kolenko und stammt aus dem Kaukasus. In Moskau lebt er und hat dort seine Familie, doch ist dort mit Musik immer weniger Geld zu verdienen, und so treibt es ihn nach Berlin. Hier hangelt er sich von Schlafplatz zu Schlafplatz, und nur mit Losglück kann er die Spiellizenz für eine lukrative U-Bahn-Station ergattern. Überschüssiges Geld wird an die heimische Familie geschickt. Eine mitleidgeplagte Berlinerin lässt ihn bei sich wohnen, was einen erheblichen Anpassungsdruck auf ihn ausübt, aber andererseits auch Sicherheit schafft. Immer wieder fährt er in Heimat, kann neue Einladungen nach Berlin ergattern, denn ohne Einladung gibt es für ihn kein Visum.

Dieser Roman erzählt nicht nur ausschließlich die Geschichte von Kolenko, sondern von den vielen Menschen, die ihm auf seiner Reise durch die neunziger Jahre begegnen. Das Scherer ihr Schreibehandwerk lang Zeit als Journalistin beim Spiegel perfektioniert hat, ist diesem Roman anzumerken. Dennoch geht er aber weit über die reine Gebrauchsliteratur hinaus. Kunstvoll ist die Sprache von Scherer, an Fakten orientiert und trotzdem poetisch genau formuliert, was in der Literatur ja sehr selten ist. Und eben die besondere Qualität dieses Buches ausmacht.

M. Freerix

Der Akkordeonspieler
Matthes & Seitz Berlin
142 Seiten, Hardcover gebunden
Erschienen: 2017
ISBN: 978-3-95757-325-4
Preis: 16,00 €

vonpaula

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